Mein Name ist Estela
»Wer Estela zuhört, wird ihre Stimme nicht mehr vergessen. Ein Roman, der aufrüttelt wie kein zweiter.« (Mareike Fallwickl)
Das Mädchen ist tot, die Haushälterin wird vernommen. Zum ersten Mal hören alle Estela zu. Szene um Szene offenbart sie ein schwindelerregendes Kammerspiel unüberbrückbarer Klassenunterschiede.
Sieben Jahre hat Estela im Haus der fremden Familie gelebt, hat tagein, tagaus für sie gesorgt. Die karierte Schürze ist zu einer zweiten Haut geworden, die dünnen Wände ihres Zimmers sind immer näher gerückt. Doch sie ist nicht die einzige Gefangene des Hauses: Im leeren Blick des Mädchens sieht Estela ihre eigene Einsamkeit gespiegelt. Jeder Versuch von Intimität zwischen Angestellter und Kind zerschellt an der ehrgeizigen Mutter und dem autoritären Vater, an der Brutalität der Verhältnisse. Auf engstem Raum ringen vier Menschen ums Überleben und rasen doch unausweichlich auf eine Katastrophe zu.
Meine Meinung:
Hallo? Ist hier jemand?
Da ist eine Frau, die auf mich Anfangs wie ein Mädchen gewirkt hat. Ihr Name ist Estela. Sie verlässt ihr heißgeliebte Mutter, um bei einer reichen Familie als Hausmädchen zu arbeiten. Die Senora bekommt ein ein Kind. Als Baby ist das kleine Mädchen glücklich. Estela kümmert sich um es und entwickelt eine Liebe zu der Kleinen, die von der Mutter nicht gerne gesehen wird. Wie der Klappentext schon verrät, stirbt das Mädchen im späteren Verlauf.
Wir erfahren die Geschichte aus der Sicht von Estela. Bei einem Verhör erzählt sie ausschweifend, was sie in den sieben Jahren bei der Familie erlebt hat. Endlich kann sie ihre Stimme gebrauchen. Bei ihrer Arbeit erhielt sie nur Anweisungen. Denn Menschen Estela hat keiner wahrgenommen.
Ich weiß gar nicht, wann mich das letzte Mal eine Protagonistin in einem Roman so berührt hat. Die Klassenunterschiede sind sehr deutlich zu erkennen. Estela vereinsamt mitten in einer Familie. Den Esstisch deckt sie stets für drei Personen. Sie muss alleine in der Küche essen. Ihre Schlafstatt befindet sich direkt neben der Küche. Getrennt mit einer Schiebetür aus Milchglas. Somit ist noch nicht mal ein kleines bisschen Privatsphäre gegeben.
Um das Mädchen kümmert sie sich sehr liebevoll. Estela muss mit ansehen, wie der Senor und die Senora aus dem glücklichen Baby ein unglückliches Kind machen. Es zu Höchstleistungen anspornen und dafür sorgen, dass ihr Kind stets der normalen Entwicklung voraus ist.
Ihr Verhör gleicht einem inneren Monolog. Auf eine Antwort wartet man vergeblich. Estela erzählt sehr ausschweifend, da man zu einem gerechten Urteil alles wissen muss. Der Schreibstil ist so detailliert, dass ich die Hitze Santiagos auf meiner Haut spüren konnte. Die viele Hausarbeit und die mangelnde Konversation mit Menschen, machen aus der einst glücklichen Estela eine tieftraurige Frau. Das haben Estela und das Kind gemeinsam. Für Estela ist das Kind ein Blick in den Spiegel.
Schritt für Schritt kommt man der Katastrophe näher. Es gibt so viele Situationen, die mich fassungslos machten. Wunderbare Zitate erhöhen den Lesegenuss.
Das Mädchen beisst sich seine Finger stets blutig. Zitat aus dem Buch:
Zum Nägel kauen muss man die Hände frei haben
Nicht mal dafür hätte Estela Zeit gehabt.
Das Ende ging mir durch Mark und Bein: Hallo? Hört ihr mich? Ist da wer?
Estela, ich habe dir zugehört. Mit mir auch viele Andere.
Fazit:
Von mir eine absolute Empfehlung, für dieses außergewöhnlich gute Buch.
Ein großes Dankeschön Alia Trabucco Zerán.
Alia Trabucco Zerán
Alia Trabucco Zerán, geboren 1983 in Santiago de Chile. Ihr Debütroman "Die Differenz" (2021) wurde für den International Booker Prize nominiert und 2022 mit dem British Academy und dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. Mein Name ist Estela ist ihr erster Roman bei Hanser Berlin.
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